Arztgedanken

Wilfried Deiß Facharzt für Innere Medizin – Hausarzt


MEIN ÄRZTLICHES GEWISSEN UND DIE ARZTGEHEIMNIS-CLOUD

? Digitalisierung im Gesundheitswesen – eHealth-Gesetz befolgen oder verweigern ?

Das gesetzliche Ultimatum an Arztpraxen, bis 30.6.2019 die Anschlusstechnik an die sogenannte Telematik- Infrastruktur zu bestellen (oder mit 1% Honorarabzug bestraft zu werden) läuft in den nächsten Tagen ab.
Worum geht es und was ist mein Problem damit?
Die Elektronische Gesundheitskarte ist der Zugangs-Schlüssel zur sogenannten Telematik-Infrastruktur. Der Kern dieses Projektes ist eine Cloud für Gesundheitsdaten. Dort sollen in Zukunft alle Arztberichte möglichst aller Bürger dauerhaft gespeichert werden. Diese Cloud ist anders als jede andere Cloud. Denn dort werden keine Fotos oder Bilder oder Filme oder Nachrichten oder Wissenschaftliche Daten gespeichert, sondern etwas qualitativ ganz Anderes. Dort werden die intimsten Informationen über Menschen gespeichert, die aus gutem Grunde historisch dem strengen Schutz des Arztgeheimnisses unterliegen. Die Telematik-Cloud ist also die Arztgeheimnis-Cloud.

Was kann ich als Arzt besser als andere Berufsgruppen?

Ärztinnen und Ärzte sind besonders geschult in der Kunst des ABWÄGENS. Wohl in keinem anderen Beruf ist die Fähigkeit, Nutzen und Risiken für jede einzelne Entscheidung genau und verantwortungsvoll abzuwägen, so wichtig wie hier. Es ist das grundlegende Prinzip ärztlichen Handelns, das Abwägen zum Wohle des Patienten. Das Wissen, das für diesen Abwägungprozess erforderlich ist, basiert auf Wissenschaft. Insbesondere sind es kontrollierte wissenschaftliche Studien hoher Qualität, die den Nutzen und den möglichen Schaden von medizinischen Entscheidungen messbar machen. Die daraus resultierenden Leitlinien sind die Basis ärztlichen Abwägens, von Ihnen lassen wir uns leiten, wissen aber auch, dass manchmal mit stichhaltiger Begründung von diesen Leitlinien abgewichen werden kann oder muss. Wir müssen sozusagen die Regeln genauestens kennen, um zu wissen, wann wir mit Begründung von Ihnen abweichen sollten, zum individuellen Wohle des Patienten.

Was bedeutet das Prinzip der Abwägung für mich als Arzt und die Telematik-Infrastruktur?

Welche Ärztlichen Konflikte entstehen, wenn es um die folgenden Fragen geht: Praxis an Telematik-Infrastruktur anschließen? Patientendaten/ Krankenakten in die Zentrale Telematik-Infrastruktur/ Arztgeheimnis-Cloud „hochladen“? Ganze Krankenakten dauerhaft in der Cloud speichern? Um diese Fragen soll es im Folgenden gehen.

WIE HÄTTE DIE PLANUNG FÜR DIGITALE ANWENDUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN GEWESEN SEIN KÖNNEN?

Was wäre zunächst wichtiger gewesen, Praktikabilität oder Datenschutz?

Bei der Planung einer digitalisierten Informationsübertragung im Gesundheitswesen ist NICHT der Datenschutz das erste Kriterium, sondern die Praktikabilität im Alltag. Dies aus einem ganz einfachen Grund: Ein technisches Hilfsmittel, das den Alltag erschwert, das Zeit kostet, anstatt den Alltag zu erleichern, wird schlicht nicht akzeptiert und nicht verwendet. Der beste Datenschutz nützt nichts, wenn das Projekt zur Investionsruine wird. Die Suche nach der besten Strategie zu einer zweifellos sinnvollen digitalen Informationsübertragung (anstatt analoge Post und Fax) beginnt also mit der Frage der Praktikabilität. Alltagstauglichkeit ist das erste Kriterium für Projekte und nachfolgende Modellprojekte.

Dann als nächstes Kriterium der Nutzen:

Nach der Praktikabilität kommt der Nutzen. Gelingt es tatsächlich, die Informationsbereitstellung zu erleichtern und zu verbessern, Dopppeluntersuchungen zu vermeiden, durch besseren Informationsfluss die medizinische Behandlung zu verbessern? Bleiben in der Folge Patienten gesünder und leben länger?

Erst jetzt kommt der Datenschutz:

Konzepte, die sich als praktikabel und nützlich erwiesen haben, müssen nun ihre Datensicherheit beweisen. Dass es keine 100%ige Datensicherheit gibt, ist klar. Dass zwischen Einzelfallrisiken beim Datenschutz und Kollektivrisiken bei großen Datensammlungen unterschieden werden muss, ist ebenso offensichtlich. Das zu favorisierende Projekt der Digitalen Datenübertragung im Gesundheitswesen ist das, bei dem hohe Praktikabilität und hoher Nutzen bei akzeptablen Datenschutzrisiken zu haben sind. Bis hierhin wären Modellprojekte erforderlich gewesen. Und jetzt käme die Bevölkerung ins Spiel:
Auf der Basis von erfolgreichen Modellprojekten kann die Bevölkerung demokratisch einbezogen werden. Dazu benötigt spätestens jetzt das Projekt einen Namen, den die Betroffenen verstehen können, etwa so:

DEUTSCHES NETZWERK FÜR DIGITALE INFORMATIONSÜBERTRAGUNG UND DAUERHAFTE INFORMATIONSSPEICHERUNG IM GESUNDHEITSWESEN.

Aufgrund der erfolgreichen Testphase mit hoher Zustimmung der beteiligten Behandler und Patienten ist es dann wahrscheinlich, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung die eigene Teilnahme befürwortet, vielleicht sogar für eine dauerhafte Speicherung von Patientenakten, wenn der Nutzen als erwiesen gelten kann.

ALL DAS IST NICHT PASSIERT

Ein Debakel seit 2005. Für die Bevölkerung das Projekt „Elektronische Gesundheitskarte“ benannt. Netzwerk und Cloud für die Öffentlichkeit verheimlicht und mit dem unverständlichen Begriff Telematik kaschiert. Noch heute glauben die meisten Patienten, alle Patientenberichte sollen „auf der Karte“ gespeichert werden. Keine Einbeziehung derer, die mit Netz und Cloud arbeiten sollen. Unsinnige stufenweise Strukturierung. Erste und bisher einzige Anwendung Krankenkassen-Bürokratie, Versicherten-Stammdaten-Management. Wenn die erste Anwendung der eArztbrief mit Punkt-zu-Punkt-Übermittlung ohne dauerhafte Speicherung und mit kompatiblen Schnittstellen zu allen Praxisverwaltungssystemen gewesen wäre, hätte man auf eine Basis-Akzeptanz hoffen können. Anstatt ein funktionierendes Alltags-„Werkzeug“ aufzubauen, hat man sich mehr mit zukünftiger Big-Data-Konnektivität beschäftigt. Entstanden ist eine teures Monster, das nichts kann, außer Chipkartendaten mit dem Krankenkassencomputer auszutauschen. Externe Interessen haben die Oberhand gewonnen über den möglichen Sinn eines digitalen Werkzeuges.
Und die meisten Patienten wissen bis heute nicht, dass Ihre Patientendaten dauerhaft in einer Cloud gespeichert werden sollen. Sie sind zu dieser entscheidenden Information nie informiert und nie befragt worden.

WAS HEISST DAS NUN FÜR MEINE ÄRZTLICHE ABWÄGUNG?

Ich muss spekulieren über noch nicht existente „zukünftige“ Anwendungen „mit medizinischem Mehrwert“. Über die Praktikabilität von Empfang und Versendung von Arztbriefen gibt es keine Erkenntnisse. Über die Praktikabilität des Uploads von Arztberichten in die Zentrale Telematik-Infrastruktur/ Arztgeheimnis-Cloud ebenfalls nicht, ebensowenig über den Download aus der Cloud. Es gibt keine Erkenntnisse über den Nutzen, niemand weiß, ob der medizinische Alltag wirklich leichter wird. Über eine Nutzen-Effekt für die Ziele der medizinschen Behandlung schon gar nicht.

Mein Gebot für Wirtschaftlichkeit:

Ärzte haben eine weitere gesellschaftliche Verantwortung: Sie sind verpflichtet, Entscheidungen so zu treffen, dass das WIRTSCHAFTLICHKEITSGEBOT eingehalten wird:
„Das Wirtschaftlichkeitsgebot ist ein grundlegendes Prinzip der Gesetzlichen Krankenversicherung und des Vertragsarztrechtes. Die Leistungen der Krankenversicherung müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 12 SGB V). Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen Leistungserbringer nicht
bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.“ Das muss auch so sein, denn die Kosten von Ärztlichen Entscheidungen werden durch die Krankenkassenbeiträge, also durch die Solidarbeiträge der Versicherten
gedeckt. Es ist NICHT das Geld der Krankenkassen, sondern das Geld der Versicherten. Wenn ich nun dem eHealth-Gesetz Folge leiste und den „Konnektor“ bestelle, also die Anschlusstechnik, die den Praxiscomputer mit Netzwerk und Cloud verbindet, dann löse ich allein dadurch Kosten von mindestens 4000 EUR aus. Das sind letztlich Versichertenbeiträge. Ist das ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich und überschreitet das nicht das Maß des Notwendigen? Kann ich das von einem Projekt wissen, das nicht einmal
existiert. Bei zu teuren Medikamenten oder bei zu viel Krankengymnastik zahlen wir Ärzte Regresse. Hier geht es um Milliarden, bei denen zu Praktikabilität und Nutzen keinerlei Aussagen gemacht werden können. Meine Antwort lautet NEIN. Aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot leite ich meine Verpflichtung ab, NEIN zu sagen.

Und was tue ich, wenn ich Arztberichte in die Cloud/ elektronische Patientenakte „hochlade“?

Durch den Upload verlässt das Arztgeheimnis den geschützten Raum Arztpraxis und gelangt in den Kollektivspeicher Cloud. In den letzten 10 Jahren habe ich 2x ein Umfrage bei unseren Patienten gemacht. Sicher nicht repräsentativ, aber unsere Patienten sind überdurchschnittlich gut informiert. Sie wissen, dass Ihre Arztberichte dauerhaft in einer Cloud gespeichert werden sollen. Über 90% unserer Patienten lehnen das ab. Ich selbst will das auch nicht. Auch die große Mehrheit der Ärzteschaft will das nicht. Wieviele Prozent der Gesundheitspolitiker, Krankenkassen-Mitarbeiter und IT-Spezialisten wollen das? Ich möchte die Krankenkassen auffordern, doch bitte, bitte endlich die entscheidende Frage an alle Ihre Patienten zu stellen: „Möchten Sie, dass in Zukunft alle Ihre persönlichen Gesundheitsdaten, die bekanntlich allesamt dem Arztgeheimnis unterliegen, bundesweit dauerhaft in einem Zentralen Datenspeicher, einer sogenannten Cloud, gespeichert
werden?“

Ist die Telematik-Infrastruktur/ Arztgeheimnis-Cloud ein Medizinprodukt?

Es gab etliche Skandale zu Medizinprodukten in den letzten Jahren. Hier zunächst die Erklärung zu Medizinprodukten vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.
„Medizinprodukte sind Produkte mit medizinischer Zweckbestimmung, die vom Hersteller für die Anwendung beim Menschen bestimmt sind. Anders als bei Arzneimitteln, die pharmakologisch, immunologisch oder metabolisch wirken, wird die bestimmungsgemäße Hauptwirkung bei Medizinprodukten primär auf z. B. physikalischem Weg erreicht. Zu den Medizinprodukten gehören z. B. Implantate, Produkte zur Injektion, Infusion, Transfusion und Dialyse, humanmedizinische Instrumente, medizinische Software, Katheter, Herzschrittmacher, Dentalprodukte, Verbandstoffe, Sehhilfen, Röntgengeräte, Kondome, ärztliche Instrumente sowie Labordiagnostika“.
Sie sehen, auch Software gehört dazu. Nach diversen Skandalen um Silikon- und andere Implantate und nach viel zu laschen Zulassungsverfahren hat man dazu gelernt. Auch bei Medizinprodukten muss wissenschaftlich nachgewiesen werden, dass der Nutzen vorhanden ist und weit größer ist als die Risiken. Auch bei Gesundheits-Apps auf Handys wird inzwischen über Notwendigkeit von Zertifizierung als Medizinprodukt diskutiert. Mein Verstand sagt mir: eGesundheitskarte + Netzwerk + Arztgeheimnis-Cloud sind ein Medizinprodukt und gehören entsprechend behandelt.

Was ist mit der Datenschutzgrundverordnung?

Selbstverständlich muss auch die Telematik-Infrastruktur genauestens geprüft werden. Bisher kann das noch nicht geschehen sein, denn bis auf das Versicherte-Stammdaten-Management existiert noch keine relevante Anwendung. Eines muss man sich allerdings klar machen: Wenn man einen Sicherheitstechniker beauftragt zu prüfen, wie man am sichersten zu Fuß über eine befahrende Autobahn kommt, dann wird er mit hoher Sicherheit die am wenigsten gefährliche Methode finden. Aber er wird NICHT zu dem Ergebnis kommen, dass man eine befahrene Autobahn nicht zu Fuß überqueren sollte.

Wofür werden Versichertenbeiträge verwendet?

Welcher Schaden entsteht eigentlich, wenn 5-10 Milliarden EURO dem Gesundheitswesen ENTZOGEN werden. Aktuell sollen Pflegekräfte besser bezahlt werden. Um einen bundeseinheitlichen Tarifvertrag umzusetzen, fehlen 5 Milliarden EURO. Das allein ändert nichts an der Arbeitsüberlastung in den Kliniken. 100.000 bis 200.000 ausgebildete Krankenschwestern und Krankenpfleger arbeiten NICHT, weil sie unter den aktuellen Bedingungen des ökonomisierten Gesundheitswesens nicht arbeiten wollen. Da könnten weitere 5 Milliarden sehr hilfreich sein. Denn was überall fehlt, nicht nur im Gesundheitswesen, sind nicht Algorithmen, sondern qualifizierte Menschen.

P.S. Bei der Korrektur dieses Textes erreicht mich noch eine Nachricht:
Kürzlich hat der Europarat neue Leitlinien für den Schutz von Gesundheitsdaten beschlossen. „Für die aktuellen Diskussionen in Deutschland erscheint vor allem dieser Punkt zentral: Der Europarat schließt Versicherungsunternehmen und Arbeitgeber ausdrücklich aus dem Kreis derer aus, die berechtigt sind, Zugang zu den personenbezogenen Daten von Einzelpersonen zu erhalten“ (Ärzte-Zeitung online 1.4.19). Damit werden Patientendatensammlungen von Krankenversicherungen wahrscheinlich ein Fall für die Gerichte. Und ärztliche Hilfe bei der Sammlung von Patientendaten möglicherweise ebenso.

Wie würde die Arztgeheimnis-Cloud im Rückblick beurteilt werden, wenn in 5 oder 10 oder 15 Jahren die Krankengeschichten der Bevölkerung gehackt werden?

Man würde retrospektiv berechtigte Fragen stellen. Hätten denn die medizinischen Ziele der Cloud- Speicherung, nämlich die bessere Bereitstellung von Patienteninformationen, nicht OHNE zentrale dauerhafte Speicherung erreicht werden können?
Meine Antwort ist ja. Denn im medizinischen Alltag ist die jederzeitige Verfügbarkeit ALLER Patientendaten kaum relevant. Was aber im medizinischen Alltag tatsächlich STÄNDIG benötigt wird, ist eine jederzeit aktuelle Liste von Dauerdiagnosen mit Unverträglichkeiten und Allergien sowie ein jederzeit aktueller Medikationsplan. Diese Informationen lassen sich wunderbar dezentral zur Verfügung stellen, die Details dazu sind ein eigenes Thema, das wir in unserer Praxis seit Jahren praktizieren, zur großen Freude von Fachärzten und Krankenhäusern. Wird es den Algorithmen einer Arztgeheimnis-Cloud jemals gelingen, auf einen Blick und mit
einem Click ein aktuelles Medikations-Diagnosen-Dokument bereit zu stellen?
Insgesamt ist es sehr wahrscheinlich, dass sowohl aktuell als auch retrospektiv sich der potentielle Schaden durch die Cloud-Speicherung sehr viel größer darstellen wird als der mögliche und bisher nicht bewiesene Nutzen. Damit führt meine Ärztliche Abwägung bezüglich der Cloudspeicherung zu einem eindeutigen Ergebnis.

Und was hätten Ärztinnen und Ärzte retrospektiv falsch gemacht bei unkritischer Zustimmung?

Ärzte hätten wieder einmal ein uraltes Prinzip nicht beachtet, das Prinzip des Primum nil nocere, „Vor allem nicht schaden“. Gilt seit dem Altertum und wird immer wieder einmal vergessen. Die Gefahr ist aktuell groß, dass in großem Rahmen Schaden angerichtet wird. Ich bin weiterhin fest entschlossen, diesen Fehler nicht zu machen und werde Strafzahlungen in Kauf nehmen.